»Karma of Existence«

Diplomarbeit von Yelena Maksutay, 2022

Installationsansicht von »Karma of Existence«
Sie umfasst folgende Arbeiten:
»WALL«: Graphit-Zeichnung und Frottage (3,75mx8,71m)
»SHE«: Video-Dokumentation von 5 Performances

»WALL«

Close-up, Graphit-Zeichnung und Frottage auf Chinapapier

»SHE«

»PILE«, 2022, Einkanal-Video, 10 Min. 53 Sek.
Performance von Yoshinori Niwa und Yelena Maksutay

»HIDE«, 2022, Einkanal-Video, 15 Min. 08 Sek.
Performance von Yelena Maksutay

»SWAP«, 2022, Einkanal-Video, 8 Min. 40 Sek.
Performance von Yoshinori Niwa und Yelena Maksutay

»WALK«, 2022, Einkanal-Video, 31 Min. 38 Sek.
Performance von Yoshinori Niwa und Yelena Maksutay

»LICK«, 2022, Einkanal-Video, 26 Sek.
Performance von Yelena Maksutay

»Karma of Existence«

Wie ist es möglich, Kunst zu schaffen, die sich mit der elementaren »Void« und Fragilität der menschlichen Existenz sowie mit dem Tod und der Identitätsfrage als deren Endpunkt auseinandersetzt? Meine künstlerische Praxis besteht darin, von meinem persönlichen, unikalen Hintergrund auszugehen. Ich kreiere eine Situation, in der konträre Qualitäten koexistieren und versuche damit, einen Raum der »Existenz der Nichtexistenz« zu schaffen. Auch untersuche ich den Zeitgeist und die menschliche Existenz und benutze das Gefühl der Unvereinbarkeit als Auslöser.

Die Motivation für die hier gezeigten Zeichnungen ist die Auseinandersetzung mit der überwältigenden »Void«, die von den Mauern, die uns trennen, ausgeht. Bei einem Wohnungswechsel im letzten Jahr fand ich in einem Umzugskarton einen kleinen Stein, den ich als Kind von der Berliner Mauer abgeschlagen hatte. Dies führte zu einer intensiven Auseinandersetzung mit Nähe und Distanz. Da ein Teil meiner Familie aus Deutschland stammt, verbrachte ich nach dem Mauerfall einige Zeit in Berlin. Ganz deutlich hat sich mir der damalige Zustand der Fassaden zur Grenzmauer hin ins Gedächtnis eingebrannt; alle fensterlos, schrecklich finster und trostlos. Selbst wenn die Grenzmauer nicht mehr steht, ist ihre vergangene Präsenz noch deutlich sichtbar. Bei der Auseinandersetzung mit der »Void« stellte sich mir unweigerlich auch die Frage nach meiner Identität. Als Tochter schweizerischer und kosovarischer Eltern und eines deutschen Adoptivvaters existiert meine Identität zerrissen im Akt der Grenzüberschreitung. Die aktuelle globale politische und wirtschaftliche Krise, insbesondere die russische Invasion in die Ukraine und die durch Covid-19 verursachte soziale Isolation und sozioökonomischen Spannungen, haben mich ebenfalls dazu veranlasst, mich mit den Themen »Void« und Teilung zu beschäftigen.

»WALL« (2022), ist eine 3,75 m hohe und 8,71 m breite zeichnerische Arbeit, die an von Menschen geschaffene Grenzmauern erinnert. Um der Mauer zu begegnen, waren Rekonstruktion und Zerlegung unerlässlich. Eine Mauer, die die Menschen gewaltsam trennt und sie in das Nichts treibt. Sowohl im politischen als auch im alltäglichen Sinne: Die Menschen isolieren sich von der Außenwelt und erleben eine psychologische Leere. Ich ließ unnötige Elemente weg und strebte eine minimalistische Arbeit an. Ich versuchte, zum Ground Zero zu gelangen. Nach intensiver Recherche beschloss ich, die Fassade einer Grenzmauer auf Papier zu zeichnen. Die Installation besteht aus mehreren dünnen Papierbögen, die an der Wand nebeneinander aufgehängt werden. Darauf zeichnete ich eine maßstabsgetreue Grenzmauer. Die Zeichnung sollte an die Berliner Mauer oder die Sperranlage um den Gaza-Streifen erinnern. Durch die enorme Symbolik wird die Geschichte der Teilung, sowohl im politischen und geografischen als auch psychologischen und poetischen Sinne thematisiert. Nach mehreren Versuchen, eine solide Betonmauer zu imitieren, erwies sich eine Überlagerung von Frottage und Zeichnung auf feinstem Chinapapier als die beste Methode. Um einen geeigneten Untergrund für die Frottagetechnik zu finden, habe ich öffentliche Räume aufgesucht und ließ die ansonsten solide Mauer sich selbst auf einem fragilen Papier abzeichnen. Ich möchte untersuchen, wie das menschliche Sehen geprägt wird, bzw. welche Emotionen durch die Illusion einer Mauer hervorgerufen werden, wenn ich ein robustes Material auf ein fragiles Medium zeichne. Dies erlaubt die Koexistenz zweier gegensätzlicher Materialien als visuelle Illusion. Bei näherer Betrachtung der Zeichnung sind unzählige Kratzer und Risse zu erkennen, die an die historische Teilung von Vergangenheit und Gegenwart erinnern. Offensichtlich existiert ein Phantom der »Void«, dessen Medium maßlos ist. Diese Inkongruenz ist der Kern des Werks, in dem die Mauer, die uns Menschen trennt, wie ein Stück Papier erscheint, das leicht zerrissen werden kann.

Die Konfrontation mit der »Void« ist letztlich eine Auseinandersetzung mit dem Tod, der sich auf die Leere, das Nichts oder die Stille bezieht. Durch die zeichnerische Arbeit, die diese konträren Qualitäten vereint, nähere ich mich der Natur des menschlichen Todes. Ich löse die Emotionen der »Void«, die die Menschheit trennen, aus den Mauern heraus. Ich lehne den Dualismus von Descartes ab – die Vorstellung einer Unterscheidung zwischen Existenz und menschlicher Wahrnehmung, wie z. B. »Ich denke, also bin ich« – und nehme den existentialistischen Ansatz von Sartre an, in dem nur die konkrete Existenz vor der Essenz existiert. Die menschliche Existenz existiert als ein Fließen in eine Reihe von konkreten Gefühlen wie Angst, Einsamkeit und Hilflosigkeit in absurden Situationen. Es ist intuitiv klar, dass dies die Essenz der menschlichen Existenz ist, ganz zu schweigen von der menschlichen Wahrnehmung selbst. »WALL« spricht zum Publikum als eine Masse von Nichts, wie ein Phantom, das seine Essenz verloren hat. Um dieses »Void« zu überwinden, stimuliere ich die Existenz einer autonomen menschlichen Subjektivität.

Im Zuge der Aneignung dieser Subjektivität musste ich mich mit meiner Identität und meiner Existenz auseinandersetzen. Dies rührt von der Intuition her, dass die Lebens-Identität als Kehrseite des Todes mir hilft, meine Situation zu erfassen und zu analysieren.

»SHE« (2022), besteht aus einer Video-Dokumentation von fünf Performances mit den Titeln »Pile«, »Hide«, »Swap«, »Walk« und »Lick«. Diese Aktionen sind ein Prozess der Identitätsfindung und sind von alltäglichen Handlungen inspiriert. Ich performe hauptsächlich im öffentlichen Raum in Wien und in Zürich. In »Pile« liege ich auf dem Bauch und versuche, das Gewicht verschiedener Haushaltsgegenstände wie Stühle, Tische, Reiskocher und eine Zimmerpflanze zu balancieren, die sich übereinander auf meinem Rücken stapeln. Nur mit dieser Last des Lebens fühle ich mich berechtigt zu existieren – mein Schmerz beweist meine Existenz. In »Hide« steige ich nachts in eine große Kartonschachtel in der Zürcher Innenstadt und dokumentiere die Reaktionen diverser ahnungsloser Passanten/-innen. Am Ende des Videos fällt ein betrunkener Mann auf den Karton, ohne zu bemerken, dass ich mich darin befand. Ich agierte als eine »Existenz der Nichtexistenz« auf der Straße, wo viele Passanten im Rausch waren – gibt es eine Trennung/Verbindung zwischen der Welt, in der ich existiere, und der Welt der anderen? In »Swap« tauschen mein Freund und ich unsere gesamte Kleidung, inklusive Socken und Unterwäsche. Dadurch wird deutlich, dass wir ungleiche körperliche Merkmale haben, die von unterschiedlichen Ethnien und einem unterschiedlichen Geschlecht herrühren. Ich ziehe die Kleider aus, die meine Weiblichkeit sichern und entblöße meinen Körper – woher kommt das Bewusstsein meiner Identität? In »Walk« gehe ich durch die Straßen Wiens, wobei mein Freund meinen Kopf Richtung Boden drückt, als ob der Mann die Frau unterdrückt – dabei kann er nicht sehen, in welche Richtung ich gehe, ist das eine Co-Abhängigkeit? In »Lick« lecke ich am Schweizer Nationalfeiertag vor einem Café an einer Schweizer Flagge. Als Mehrfach-Bürgerin bin ich hin- und hergerissen zwischen Liebe und Hass für eines meiner Heimatländer – wie sehr wurde meine Identität durch das Land geprägt, in dem ich aufgewachsen bin?

Ich kreiere eine Situation, in der konträre Qualitäten koexistieren und versuche so, einen Raum der «Existenz der Nichtexistenz» zu schaffen. Das Gefühl der Diskrepanz benutze ich dabei als Auslöser, um den Zeitgeist und die menschliche Existenz zu untersuchen. So fällt zum Beispiel am Ende des Videos »Hide« der betrunkene Mann auf den Karton, ohne zu bemerken, dass ich mich darin befand. Dies bestätigt meine Existenz und reflektiert, die fundamentale Fatalität der menschlichen Existenz, die ein konkretes Gewicht, einen konkreten schmerzhaften Körper hat. Durch diese künstlerische Praktik überwinden wir dieses Phänomen und erlangen ein Bewusstsein für unseren menschlichen Körper.

Liste der Arbeiten

»WALL«
2022, Graphit-Zeichnung und Frottage auf Chinapapier 30 g/m2
9 Bahnen von je 3,75m x 0,97m
Gesamtgröße: 3,75m x 8,71m

»SHE«
2022, Video-Dokumentation von 5 Performances:

»Pile«, 2022, Einkanal-Video, Dauer: 10 Min. 53 Sek.

»Hide«, 2022, Einkanal-Video, Dauer: 15 Min. 08 Sek.

»Swap«, 2022, Einkanal-Video, Dauer: 8 Min. 40 Sek.

»Walk«, 2022, Einkanal-Video, Dauer: 31 Min. 38 Sek.

»Lick«, 2022, Einkanal-Video, Dauer: 26 Sek.